The plurality of music theory in the sixteenth century: Strategies, intentions and methods in writings on music

The plurality of music theory in the sixteenth century: Strategies, intentions and methods in writings on music

Organisatoren
Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel, Leitung: Inga Mai Groote
Ort
Wolfenbüttel
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.04.2011 - 21.04.2011
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Von
Inga Mai Groote, Musikwissenschaftliches Institut, Universität Zürich

Musiktheoretische Schriften scheinen auf den ersten Blick als wissenschaftliche Fachtexte klar bestimmt zu sein. Zunehmend wird erkannt, dass auch der musikalische Fachdiskurs nicht nur auf die Vermittlung von materialbezogenen, rein satz- und kompositionstechnischen Inhalten ausgerichtet ist, sondern dass – über allgemeine Textgenre- und Adressatenfragen hinaus – die Autoren durch die Gestaltung ihrer Texte und das Arrangement des Stoffes deutlich weitergehende Positionierungen vornehmen können. Gerade in der frühen Neuzeit entstehen zahlreiche Texte über Musik und ihre theoretischen Grundlagen, die nicht einem einheitlichen System von ‚Musiktheorie‘ zugeordnet werden können und die gleichzeitig in Zusammenhang mit den zeitgenössischen Entwicklungen anderer Disziplinen untersucht werden sollten. Die Entwicklung der Musiklehre und –theorie im 16. Jh. lässt sich daher als typisches Pluralisierungsphänomen verstehen: Ein Wissensbestand muss erweitert und neu arrangiert werden, um sich ändernden Zwecken und Interessen gerecht zu werden.

In den vergangenen Jahren entstehen zwar vermehrt Untersuchungen, in denen musiktheoretische Schriften nicht als bloß ‚technische‘ Texte, sondern als von ihren Autoren bewusst gestaltete und im Rahmen größerer, auch außermusikalischer, Diskurse positionierte Texte gelesen werden.1 Derartige Perspektiven sind gerade für das 16. Jahrhundert bislang relativ wenig erprobt worden, obwohl sich gerade in dieser Epoche diese Erscheinungen und die sie beeinflussende Faktoren beispielhaft beobachten lassen; daher widmete sich das Wolfenbütteler Arbeitsgespräch einer Auswahl von deutschen, italienischen und französischen Autoren des 16. Jh. (wobei hier gewissermaßen ein ‚langes‘ 16. Jh. zugrunde gelegt war, das von den großen Publikationen Gaffurios ab 1492 bis zu den Übergängen in die barocke Enzyklopädistik reicht). Mittels musiktheoretischer Formate können beispielsweise theologisch grundierte Bildungsprogramme propagiert oder auch konfessionelle Polemiken ausgetragen werden. Zugleich wird deutlich, wie Verlagerungen hin zu neuen ‚Leitwissenschaften‘ die Darstellung und den Stellenwert des quadrivialen Faches ‚musica‘ im Wissenssystem, aber auch in den Bildungsinstitutionen verändert. Wiedererschlossene antike Quellenbeständen müssen integriert werden und in anderen Fällen, etwa der Anwendung der Mensuralnotation, sollte die Diskrepanz zwischen Praxis und Theorie überbrückt werden. Gleichzeitig ist die Situierung der einzelnen Autoren zu berücksichtigen, die zum großen Teil nicht dem Kreis der professionellen Musiker zuzurechnen sind, sondern auf Schul- und Universitätspositionen oder als Geistliche wirken. Durch die Untersuchung dieser Aspekte wird es möglich, das Verhältnis der Musikschriften zu den Theorien anderer Künste und – vor allem – zu allgemeinen wissenschaftsmethodischen Entwicklungen zu bestimmen. Die Leitfragen, unter denen eine Diskussion so heterogener Autoren und Werke fruchtbar gemacht werden sollte, richteten sich daher besonders auf die methodische Ebene der Strategien, Intentionen und Methoden: In ihnen lässt sich untersuchen, wie die Autoren agierten und sich in ihrem intellektuellen Kontext positionierten.

Die Frage nach dem genauen Gegenstand der einzelnen Texte ist hilfreich, um die zugrunde liegende Definition und Abgrenzung von ‘musica’ zu verstehen; sie kann mit dem Profil und der Position der Autoren sowie dem angestrebten Adressatenkreis (der ebenfalls unterschiedliche Niveaus von Professionalität haben kann) verknüpft werden. Eng damit verbunden ist auch die Frage nach Gestaltung und Format der Texte (Traktat, Lehrbuch, Dialog etc.), die ebenfalls vielfältig sind und von manchen Autoren bewusst variiert werden, um unterschiedliche Leserschaften zu erreichen. Schließlich ist in zahlreichen Fällen auch die konkrete Entstehungs- und Druckgeschichte selbst zentraler Texte noch wenig bekannt, wie auch oft die tatsächliche Zirkulation und Verbreitung der Werke genauer zu erforschen bleibt, was fallweise Perspektiven von Bibliotheks- und Sammlungsgeschichte bis hin zur Untersuchung einzelner annotierter Exemplare einschließen kann.

BONNIE J. BLACKBURN (Oxford) stützte sich in ihrem Beitrag auf den Briefwechsel des Bologneser Komponisten, Kapellmeisters und Theoretikers Giovanni Spataro (1458–1541), der schon an sich eine außergewöhnliche Quelle darstellt, da hier zeitgenössische Kompositionen und Schriften zwischen Theoretikern im Detail diskutiert werden und auch Rückschlüsse auf die Publikationsvorbereitung von Traktaten zulassen. In ihrem Beitrag über einige konkrete Kontroversen ging sie vor allem auf die Interessensgebiete und Konfliktstrategien der Korrespondenten ein, die Werke vor der Veröffentlichung diskutierten und einer zum Teil vehementen Kritik unterzogen. Dabei sind unterschiedliche Vorgehensweisen zu beobachten, die mitunter mit der Durchsetzung eines Autoritätsanspruchs der Protagonisten verknüpft sind, teils wurden die Meinungsverschiedenheiten aber auch durch geschickte Camouflage wieder bereinigt.

RUTH DEFORD (New York) behandelte den Umgang mit Mensuraltheorie in Schriften besonders deutscher Autoren aus den ersten Jahrzehnten des 16. Jh. Sie konnte dabei zeigen, wie die jeweils späteren Autoren versuchten, die konzeptionellen Widersprüche zwischen verschiedenen älteren Überlieferungssträngen miteinander in Einklang zu bringen und das durch eine äußerst geschickte Interpolation der Quellen und eigener Zusätze erreicht wurde. An diesen Fallbeispielen wird nicht nur die Dichte des zugrundeliegenden Quellenbestandes deutlich, die erst in einer minutiösen Analyse des Textbestandes der einschlägigen Kapitel und ihrer Quellen zutage tritt, sondern es lassen sich vor allem die Problemlösungsstrategien der Autoren untersuchen, die mit einer widersprüchlichen Lehrtradition konfrontiert waren, aber konsistente Darstellungen der Materie anbieten wollten.

SUSAN F. WEISS (Baltimore) verknüpfte die Frage nach Besonderheiten des deutschen Universitätsbetriebs mit den Publikationen und Karrierestrategien verschiedener Autoren des 16. Jh.: An den musiktheoretischen Schriften des als Theologe und Humanist bekannten Johannes Cochlaeus lässt sich eine zwischen den Versionen zunehmende Autorisierung des Textes erkennen. Sie diskutierte die Rolle von Musikschriften für die Karriere von Autoren, da auffällig viele einschlägige Texte im frühen 16. Jh. gegen Ende der Universitätsstudien ihrer Verfasser entstanden, sie aber oft später – wie etwa Nicolaus Wollick – nicht mehr auf dieses Fachgebiet zurückkommen. Sie präsentierte zudem einige Beispiele annotierter Exemplare der Werke dieser Autoren, an denen unterschiedliche Leserschaften und die Frage nach Lehrtraditionen in Bezug auf diese Musiktexte untersucht werden können.

INGA MAI GROOTE (Zürich) stellte mit David Chytraeus und Johannes Thomas Freigius zwei Autoren des späteren 16. Jh. gegenüber, die sich trotz ihrer unterschiedlichen regionalen Situierung darin ähneln, dass sie aus einer stark pädagogisch orientierten Tradition der höheren Schuldbildung stammen und die Methodik von Philipp Melanchthon bzw. Petrus Ramus anwenden, um eine durchsystematisierte Darstellung des Stoffes zu erreichen. Am (de facto von Conradus Stuberus verfassten) Teil zur Musik in Freigius’ Paedagogus (1582) diskutierte sie die benutzten Vorlagen Glareans. Freigs und Chytraeus’ Abhandlungen zur Musik sind jeweils Teil größerer Werke und zeigen, wie musiktheoretisches Wissen für ein nicht-spezialisiertes Publikum aufbereitet und mit theologischen, naturphilosophischen oder chronologischen Aspekten verbunden wurde.

PHILIPPE CANGUILHEM (Toulouse) präsentierte seine jüngsten Forschungsergebnisse zu Vicente Lusitano (gest. nach 1561), einem portugiesischen, aber in Italien tätigen Komponisten und Lehrer, der später zum Protestantismus konvertierte. Lusitano veröffentlichte zwar eine kurze Einführungsschrift in die Musik, sein umfangreiches unpubliziertes – und von der Forschung bislang nicht umfassend rezipiertes – Manuskript erweist sich jedoch als besonders ergiebig, da es sich erheblich ausführlicher als andere zeitgenössische Quellen mit mehrstimmiger Improvisation auseinandersetzt. Es ist damit eine besonders wichtige Quelle für das Verhältnis zwischen Improvisation und ‚Komposition‘, da die elaborierte und vorgeplante, jedoch nicht-notierte Mehrstimmigkeit bereits sehr komplexe Strukturen zulässt. Canguilhem diskutierte daran die Frage von Verschriftlichungsstrategien einer usuellen Praxis, aber auch, wie sich die Zusammenstellung dieser Materialien zu Vicentinos professioneller Position und zur Ausbildungs- und Anstellungssituation in den zeitgenössischen Kirchenkapellen verhält.

PHILIPPE VENDRIX (Tours) widmete sich Pontus de Tyards Solitaire second (1552): hier wird in Form eines Dialoges der Zusammenhang zwischen antiker und moderner Musik verhandelt (der Solitaire premier befasst sich bekanntlich mit dem ‚furor poeticus‘) und besonders Aspekten des Tonsystems Aufmerksamkeit geschenkt. Trotz der Bezugnahme auf die mathematische Tradition (bis hin zur Einbindung einer Monochorddemonstration) wird auch der Perzeption von Musik Aufmerksamkeit gewidmet. Nicht nur die Wahl des Textformats ist dabei ungewöhnlich; der Beitrag ging auch auf Tyards Profil und die französische Situation im mittleren 16. Jh. ein, die insgesamt durch eine besonders geringe Zahl von Musiklehrschriften gekennzeichnet ist, und sprach mögliche Ursachen für diese Situation an.

MELANIE WALD-FUHRMANN (Lübeck) situierte Michael Praetorius’ Syntagma musicum (1615), ein umfangreiches Werk, das eine deutlich lutherisch geprägte Geschichte und Verteidigung der Kirchenmusik mit allgemeiner Musikgeschichte und elaborierter Instrumentenkunde verbindet, und Johann Heinrich Alsteds Encyclopaedia (1630) unter Rückbindung an das 16. Jh. in der Entwicklung enzyklopädistischer Konzeptionen und diskutierte sie als Beispiele historischer bzw. systematischer Ansätze. Während bei Alsted die Stellung der Musik im philosophischen Gesamtzusammenhang zu betrachten ist, wurde am Beispiel von Praetorius’ Werk diskutiert, inwieweit ein enzyklopädischer Anspruch auf einen einzelnen Gegenstand – hier die Musik – übertragen werden kann und wie die Einbindung der Praxis in die Systematik durch Historisierung gelingen kann.

XAVIER BISARO (Montpellier) befasste sich mit einem der bekanntesten Texte aus der Zeit der musikalischen Stilwende um 1600, Giovanni Artusis Dialog L’Artusi, ovvero delle imperfettioni della moderna musica, der vor allem dafür bekannt ist, dass der Autor einige Madrigale Monteverdis für ihre regelwidrige Dissonanzbehandlung kritisiert, worauf der Komponist den Vorwürfen mit der Berufung auf den Textausdruck als Legitimation entgegentrat und eine kompositorische ‚seconda pratica‘ neben dem strengen Satz postulierte. Bisaro zeigte in einer minutiösen Analyse des Textes – über die vielzitierten ‚Highlights‘ zu den Monteverdischen Fehlern hinaus –, von welcher Diskursposition aus Artusi seine Intention als Theoretiker verfolgte, aber ein letztlich für die Kontroverse ungeeignetes Textformat wählte. Er ging dabei besonders auf Artusis kirchlichen Hintergrund ein und plädierte für eine detailliertere Aufarbeitung der Ordenszugehörigkeiten von Autoren.

Der Beitrag von PAOLO GOZZA (Bologna) widmete sich Descartes’ Compendium musicae (1618), einem der frühesten Werke des Philosophen, dessen Entstehungskontext als Freundschaftsgabe für Isaac Beeckman er mit der Betonung der musikalischen Erfahrung und Wahrnehmung in diesem Text und der neuartigen Bestimmung des Ziels von Musik im Erfreuen (delectare) in Beziehung setzte. Wenngleich Descartes’ philosophisches System hier natürlich noch nicht entfaltet ist, so ist der Blick des Autors auf die Musik originell: Er bringt eine Beschreibung der Wahrnehmungsweise von Musik hervor, die sich auf Resonanzphänomene bezieht und die Rolle der Erinnerung für das Erkennen musikalischer Strukturen im Zeitverlauf zu beschreiben versucht und damit einen neuen Ansatz die Macht der Musik zu erklären entwickelt. Musik wird als klangliches Phänomen aufgefasst, das ohne den sie wahrnehmenden Menschen keine Bedeutung tragen könnte.

In ihrer Gesamtheit konnten die Beiträge zeigen, dass es ertragreich und notwendig ist, das Schrifttum über Musik breit aufzufassen, da pragmatischere oder wegen einer scheinbaren Randständigkeit vernachlässigte Schriften zur Musik substanzielle Erkenntnisse über die frühneuzeitliche Musikauffassung geben können, gleichzeitig aber auch ‚kanonischen‘ Texten der Musiktheorie durch eine gründliche Kontextualisierung und neue Ansätze noch Lesarten abzugewinnen sind, die zum Verständnis der disziplinären Verschiebungen in dieser Epoche beitragen. Insbesondere wurde deutlich, dass auch das Profil der einschlägigen ‚Theoretiker‘ entsprechend differenziert betrachtet werden sollte, da es von regional durchaus unterschiedlichen Bedingungen abhängt und selbstverständlich eng mit dem jeweiligen intellektuellen Umfeld verknüpft ist.

Konferenzübersicht:

Bonnie J. Blackburn (Oxford):
Theorists as Prima Donnas: Reviewing Music Theory in the Early Cinquecento

Ruth DeFord (New York):
Mensural Theory in Early German Textbooks

Susan F. Weiss (Baltimore):
Reading and Writing Between the Lines: Evidence of Literacy and Networks in Sixteenth Century Music Treatises

Inga Mai Groote (Zürich):
David Chytraeus and Johannes Freigius: the Way into General Education

Philippe Canguilhem (Toulouse):
Codifying an Oral Practice with Ink and Paper: Vicente Lusitano’s Manuscript Treatise on ‘improvised’ Counterpoint

Philippe Vendrix (Tours):
Pontus de Tyard, or: The Difficulty of Being a Modern Theorist

Melanie Wald-Fuhrmann (Lübeck):
Alsted, Praetorius and the Encyclopaedistic Projects

Xavier Bisaro (Montpellier):
Propositions for a Socio-historical Reading of L’Artusi (1600)

Paolo Gozza (Bologna):
Shaping Man’s Musical Experience: Number and Affection in Descartes’ Compendium musicae

Anmerkung:
1 Mit anderen zeitlichen Schwerpunkten seien genannt die Tagungsbände Jan Philipp Sprick (Hrsg.), Musiktheorie im Kontext, Berlin 2008 und Angelika Moths (Hrsg.), Musiktheorie an ihren Grenzen: Neue und alte Musik, Bern u.a. 2009; als Beispiel für die punktuelle Einbeziehung einzelner fachübergreifender Aspekte Gesine Schröder (Hrsg.), Tempus musicae – tempus mundi. Untersuchungen zu Seth Calvisius, Hildesheim 2008 (Studien zur Geschichte der Musiktheorie 4).


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